Wissensreifung beschreiben: das Phasenmodell
Das Wissensreifungsmodell ordnet die unterschiedlichen Arten von Wissen und der damit verbundenen Lernformen in ein Kontinuum, in dessen Verlauf sich das Wissen entwickelt: es wird weniger implizit kontextualisiert, wird stärker explizit vernetzt, leichter zu kommunizieren, kurzum: es reift.
- Ia. Entstehen von Ideen (expressing ideas). Neue Ideen entstehen durch den einzelnen auf der Basis persönlicher Erfahrungen oder in stark informellen Diskussionen. Das Wissen ist subjektiv und tief in den Entstehungskontext eingebettet. Die benutzten Begriffe, die zur Kommunikation oder für persönliche Notizen verwendet werden, sind unscharf und meist spezifisch für die Person.
- Ib. Zueigenmachen von Ideen (appropriating ideas). Das Individuum macht sich neue Ideen so zueigen, dass sie für die weitere Entwicklung aufbereitet werden.
- II. Verbreitung in Communities (distributing in communities). In dieser Phase wird das Wissen gemeinschaftlich weiterentwickelt. Es wird eine gemeinsame Terminologie und ein gemeinsames Verständnis zwischen den Mitgliedern einer Community ausgehandelt, z.B. im Rahmen von synchronen oder asynchronen Diskussionen (über Foren, Blogs oder Wikis).
- III. Formalisierung (formalizing). Während die in den vorangegangenen Phasen erzeugten Artefakte stark subjektiv, unstrukturiert und stark mit der Community, in der sie entstanden waren, verbunden waren, wird in dieser Phase das Wissen objektiviert und Annahmen aus dem Entstehungskontext zumindest teilweise explizit gemacht. Dies geschieht durch das Erstellen von zweckorientierten (Gebrauchs-)Dokumenten, z.B. Projektberichte oder Entwurfsdokument, aber auch Prozessmodelle.
Hier spaltet sich der Prozess in zwei Stränge auf: in einen instruktionellen Strang (1, Wissen, das vermittelt werden soll, meist "Wissen über etwas") und in einen umsetzungsorientierten Strang (2, Wissen, wie man etwas tut). Der instruktionelle Strang besteht aus den folgenden Phasen:
- IV1. Ad-Hoc-Fortbildung (ad-hoc learning). Die in der Formalisierungsphase erzeugten Dokumente sind nicht besonders gut als Lernmaterialien geeignet, da keinerlei didaktische Überlegungen einbezogen wurden. In dieser Phase nun wird das Material unter pädagogischen Gesichtspunkten weiter aufbereitet, um die Verständlichkeit und damit auch die Nutzung (und damit auch die Wiederverwendbarkeit) zu erhöhen. Dies können Lernobjekte für die Fortbildung darstellen, oder aber auch Leitfäden.
- Va1. Formelle Bildung (formal training). Hier werden individuelle Lernobjekte oder andere Lernmaterialien zusammengestellt, um ein breiteres Wissensgebiet abzudecken, so dass dieses auch an Anfänger vermittelbar wird. Prüfungen und Zertifikate bestätigen, dass Teilnehmer an formalen Bildungsveranstaltungen ein bestimmtes Kenntnisniveau erreicht haben.
Der umsetzungsorientierte Strang besteht aus:
- IV2. Pilotierung (piloting). Hier wird das entwickelte Wissen in einem kleineren Piloten umgesetzt, um Erfahrungen zu sammeln. Dies kann die Produktion einer Kleinserie bzw. mit Pilotkunden sein, aber auch die Umsetzung in einem umgrenzten Bereich innerhalb des Unternehmens.
- Va2. Institutionalisierung (instutionalizing). Nach der Pilotierung kann ein Ausrollen auf das gesamte Unternehmen erfolgen oder die Großserienproduktion. Das Produkt wird in das eigene Produktportfolio aufgenommen.
Beide münden schließlich in die höchste Reifestufe:
- Vb. Standardisierung (standardization). Hier geht es um einheitliche Richtlinien über Unternehmensgrenzen hinweg. Dies können allgemein anerkannte Qualifikationen mit den entsprechenen Curricula sein, aber auch Produktstandards (mit verbundenen Qualitätskriterien).
Für diese unterschiedlichen Phasen lassen sich Kriterien angeben, wie sie in [Maier & Schmidt, 2007] herausgearbeitet wurden. Hierzu gehören Vermittelbarkeit, Vernetzungsgrad, aber auch der Grad der Belastbarkeit und Legitimation von Informationen.
Interaktionsebenen und -richtungen
Entlang dieses Prozesses lassen sich unterschiedliche Interaktionsebenen identifizieren: von der individuellen, über die Community-Ebene bis hin zur Organisation:
- Der Startpunkt ist der Wissensarbeiter als Individuum. Er teilt seine neuen Ideen und Erfahrungen mit anderen, wobei sich dies nicht auf die Organisation beschränkt, in der er sich eingebunden findet.
- Hierzu ist allerdings ein gemeinsames Verständnis erforderlich, das sich in Gruppen mit ähnlichen Interessen und Visionen durch den Austausch von Ideen und Erfahrungen herausbilden muss. Solche Communities sind allerdings üblicherweise nicht darauf ausgerichtet, auf größere und längerfristige Ziele zuzuarbeiten.
- Das ist die Aufgabe von Organisationen. In Organisationen bündeln Wissensarbeiter ihre Kräfte, um sie auf gemeinsame oder vorgegebene Ziele zu bündeln. Die erfordert noch mehr gemeinsames Verständnis und Kohärenz als in Communities (die ja in vielen Fällen auch organisationsübergreifend sein können).
Dabei lässt sich ein Wechselspiel von Top-Down- und Bottom-Up-Prozessen beobachten. Vom einzelnen zur Organisation reift Wissen durch die Aktivitäten der Beteiligten (maturing). In der Gegenrichtung üben die Organisation und die Communities Führung aus, indem sie auswählen und eine Zielrichtung vorgeben. Diese Führung kann dabei personelle im Sinne klassischer Personalführung passieren, aber auch durch die Tatsache, dass reiferes Wissen als Bezugspunkt für neues Wissen dient. Neue Ideen entstehen im Kontext etablierten Wissens; Verbesserungen (z.B. bei bestimmten Verfahrensweisen) entwickeln sich in Auseinandersetzung mit dem etablierten Prozess. Neues Wissen benutzt die Begrifflichkeit des Etablierten etc.
Unterschiedliche Wissenstypen und ihre Reifung
Der Ansatz der Wissensreifung zielt besonders auf informellere Wissensarten in Unternehmen ab. Hier stellt sich relativ schnell heraus, dass ein enger Wissensbegriff nicht angemessen ist, weil er die Arbeitswirklichkeit nicht abdeckt. Die Vielfalt der Wissensarten wurde auf drei Typen verdichtet:
- Inhalte wie z.B. Dokumente, Bilder, Videos etc. sind die offensichtlichste Wissensart, die sowohl im Wissensmanagement, als auch im E-Learning am meisten Aufmerksamkeit erhalten hat. Diese Inhalte decken allerdings nur eine statische Sicht ab.
- Wir müsssen auch Wissensarten einbeziehen, die starker in die Arbeitsprozesse integriert sind, dem dynamischen Aspekt von Organisationen. Große Organisationen unterstützen diesen bereits durch die Entwicklung von Geschäftsprozessmodellen. Allerdings ist für KMUs dies viel zu schwergewichtig, da dort die organisationalen Lernprozesse viel agiler sein müssen und die Modellierungsaufwände viel stärker ins Gewicht fallen. Hierfür sind Ansätze aus dem Bereich des Taskmanagement, die auf das Teilen von Vorgehensweisen setzen, vielversprechend (vgl. [Grebner et al., 2008]).
- Eine weitere wichtige Wissensart hängt mit der Verknüpfung und der Ordnung dieser unterschiedlichen Wissensartefakte zusammen: Semantisches Wissen. Semantik stellt die Explikation eines gemeinsamen Verständnisses dar. Solche semantischen Strukturen stellen unternehmensweite oder abteilungsweite Taxonomien dar ebenso wie Ontologie oder ab leichtgewichtige Folksonomies. Dazu gehören auch Kompetenzmodelle, die zur arbeitsbezogenen Beschreibung von menschlichem Verhalten und Verhaltenseigenschaften und zur Steuerung von Personalentwicklungsprozessen dienen (vgl. [Schmidt & Kunzmann, 2006]).
Diese drei Wissenstypen sind eng miteinander verwoben und wechselseitig voneinander abhängig. Inhalte und Prozesse benötigen semantisches Wissen, um kommunizierbar zu werden. Deshalb ist auch die Berücksichtigung von Semantik auch die Grundlage für community-basierte Ansätze. Ohne die Berücksichtigung von Prozessen können semantisches Wissen und Inhalte nicht unmittelbar in Beziehung zu den Arbeitsprozessen gesetzt werden. Schließlich lässt sich semantisches und prozessuales Wissen mit Hilfe von Inhalten leichter vermitteln; denn während Semantik und Prozesse eher auf das Tun ausgelegt sind, dienen Inhalte dem tieferen Verständnis und der Reflexion.
Probleme
Der eingeführte Analyserahmen auf der Basis des Wissensreifungsmodells erlaubt nun eine genauere Diagnose der Probleme, die den Wissensfluss in Unternehmen behindern. Im wesentlichen sind es Brüche, die zwischen unterschiedlichen Phasen und Interaktionsebenen existieren:
- Die unterschiedlichen Phasen werden von unterschiedlichen Disziplinen und unterschiedlichen Organisationseinheiten bearbeitet. Während in den frühen Phasen eher Wissensmanagementansätze mit starkem Bezug zur Fachabteilung (Aspekt der Integration in die Arbeitsprozesse) dominieren, sind in den späteren Phasen eher die Personalentwicklung mit dem Bezug zur Pädagogik und zum E-Learning die Treiber (Aspekt der Kompetenzentwicklung). Hier ist besonders der Bruch zwischen der Formalisierungsphase und der Ad-Hoc-Fortbildungsphase besonders ausgeprägt (vgl. [Schmidt 2005]).
- Die technische Unterstützung ist fragmentiert (vgl. [Schmidt et al., 2008]): persönliches Informations- und Wissensmanagement, Blogs, gruppenspezifische Wikis, Dokumentenmanagementsysteme, Lernmanagementsysteme, Kompetenzmanagementsysteme konkurrieren miteinander, ohne dass ihr potentielles Zusammenwirken ins Auge gefasst wird.
- Der Wechsel der primären Interaktionsebenen stellt eine typische Hürde dar. Während in Communities sich (auch durch die Präsenz der Urheber der Ideen) ein Wir-Gefühl im Zusammenhang mit neuen Ideen herausbildet, überträgt sich das oft nicht auf die Organisation, die als anonym wahrgenommen wird. Dieses Problem lässt sich besonders zwischen der „Verbreitung in Communities“-Phase und der Formalisierungsphase beobachten (vgl. [Maier & Schmidt, 2007]), bei der Communities nicht „loslassen“, weil ihnen auch die Rückmeldung aus der Organisation fehlt.
- Schließlich sind bislang die Denkweisen zu statisch; es werden zwar die Entstehungsprozesse von einzelnen Artefakten (Inhalten, Prozessmodellen, Kompetenzmodelle oder Ontologien) betrachtet, nicht jedoch das Weiterentwickeln, Aktualisieren und Kombinieren mit anderen Artefakten. Ausnahmen sind hier
Was also im Fokus stehen muss, ist die Überwindung dieser Barrieren, deren Ursachen vielfältig sind: teilweise liegt sie im unzureichenden Verständnis für die Arbeitswirklichkeit, teilweise liegt sie in der fehlenden technischen Unterstützung, teilweise in der organisatorischen Trennung von eigentlich zusammengehörigen Bereichen.
Related publications
2008
Andreas Schmidt
MATURE: Den Wissensreifungsprozess in Unternehmen verbessern
In: Ockenfeld, Marlies (eds.): Verfügbarkeit von Informationen - 30. Online-Tagung der DGI / 60. Jahrestagung der DGI. Frankfurt am Main, 15. - 17. Oktober 2008, Proceedings, 2008
2007
Ronald Maier, Andreas Schmidt
Characterizing Knowledge Maturing: A Conceptual Process Model for Integrating E-Learning and Knowledge Management
In: Gronau, Norbert (eds.): 4th Conference Professional Knowledge Management - Experiences and Visions (WM '07), Potsdam, GITO, 2007, pp. 325-334
2005
Andreas Schmidt
Knowledge Maturing and the Continuity of Context as a Unifying Concept for Knowledge Management and E-Learning
In: Proceedings of I-KNOW 05, Graz, Austria, 2005